Klasse.

So leicht ist es nicht auszumachen, was die beiden da an der Ampel unterscheidet.
Nicht auf den ersten Blick.
Sie sind beide hübsch.

Doch die eine leuchtet. Ein zarter Schimmer umgibt sie. Alles an ihr ist zart.
Die Gesichtszüge weich und elegant.
Ein Gesicht wie ein Gemälde. Porzellanhaut, Porzellanbewegungen. 
Kluge Augen schauen dich an, ein sanftes Lächeln, stetig auf dem Gesicht.
Zuversichtlich. Sorglos. Königlich.

Zeugnisse aus einem behüteten Leben. 
Klavierunterricht, immer ordentlich und sauber gekleidet. Nach dem Klavier geht es zum Reiten. Die Wochenenden im Tennis Club.
Bestnoten in der Schule, kleine Exzesse als Teenager, alles in Maßen. 
Die Freunde aus gleichen Verhältnissen.
Alle wohnen in schönen Straßen, in großen Wohnungen.

Wie, andere haben es schlechter? Was soll das schon heißen? 

Die andere auch schön, nur auf eine gröbere Art. 
Die Haare widerspenstig, stumpfer. Ein paar Pickel heilen gerade ab, die Haut ist ölig. 
Und dunkler.

Ihre Augen stechend, lauernd, rastlos.
Der Mund oft verächtlich, das Lachen zu laut.
Was du ihr erzählst, zerreißt sie gedanklich. Was weißt du schon!

Großgeworden zwischen grauen Klötzen. Mit 11 die erste Zigarette.
Im Block reicht jemand eine Fotografie von einem Mädchen aus der Nachbarschaft herum. Sie ist nackt, betrunken. 15 Jahre alt. 
Und nicht allein auf dem Foto.

Zuhause wird viel gebrüllt. Für den sehnlichen Wunsch nach Reitstunden ist kein Geld. 
Dann hat Mama Krebs. Schlimmen Krebs.
Sie hat Angst. Sie ist viel allein mit Mamas neuem Freund.
Wenn er sie anschreit, treten seine gelben Augen hervor. 
Wenn er schreit, blinzelt er nie.
Starrende, gelbe, glubschige Augen.

Wie, andere haben es besser? Was soll das schon heißen?

Gleiche Stadt, gleiches Geschlecht, gleiche Zeit. 
Perspektive, Lebensfreude, Zuversicht, Ausstrahlung so verschieden. 

Woher nur kommt der Schimmer der einen? Das grobe Grau der anderen?

Nur eine hat Klasse.